5. Die Leute aus der Stadt

Es war spät am Abend, als Rønnaug ihren Platz am Fenster verließ. Als Rolf aus ihrer Sichtweite verschwunden war, stieß sie einen Seufzer aus, der jedoch längst nicht so schmerzerfüllt klang wie der von Rolf.
Plötzlich ging die Tür auf, und ihr Vater trat ein. Er sah grimmig aus. Er schien nach etwas zu suchen, und als sein Blick auf Rønnaug fiel, ging er zu ihr, sah ihr in die Augen und sagte barsch: „Wonach hältst du Ausschau?“
„Ich denke nach.“
„Über Vagabunden oder Landstreichergesindel?“
Rønnaug begriff natürlich, was ihr Vater meinte, doch sie sagte: „Weder noch.“
„Du hast in der Küche zu tun. An die Arbeit!“
Zögernd kam Rønnaug dem Befehl nach. Sie wäre gern stehengeblieben und hätte die Stelle angestarrt, an der Rolf verschwunden war, doch die Wünsche ihres Vaters waren für sie Gesetz, und sie mußte gehorchen. An diesem Abend war sie seltsam. Ihr gingen soviele Gedanken durch den kleinen hübschen Kopf. Ihr wurde leichter ums Herz, als die Glocke zum Abendessen rief.
Sie eilte erleichtert in die Kammer der Knechte und wurde von allen mit einem Lächeln empfangen. Die Männer saßen da und aßen Grütze mit Milch. Als Rønnaug erzählte, daß es morgen abend einen Ball geben würde, führten die Männer sofort an Ort und Stelle einen Freudentanz auf. Sie wollten gar nicht ins Bett, doch die Mägde verlangten „Frieden“.
Währenddessen geschah auf dem Hof etwas, das wert ist, erzählt zu werden.
Mehrere Kutschen, darunter ein Karriol, kamen durch die weißgestrichene Pforte und hielten vor der Tür. Der Stallknecht war auf seinem Posten, gab den Pferden Futter und Wasser, denn sie waren nach der langen Fahrt auf staubigen Landstraßen müde und brauchten eine Erfrischung. Er weinte jedoch bitterlich, weil die Gäste ihm kein Trinkgeld gaben. Es waren eine ganze Menge Kutschen, sechs Stück, schön und stattlich noch dazu. Feine Damen und Herren stiegen aus, und einem der Herren folgte ein kleiner Welpe, ein Neufundländer. Der zeigte dem Stallknecht seine weißen Zähne, da dieser sich so frei gefühlt hatte, ihm wegen der ausbleibenden Bezahlung einen kleinen Tritt zu geben.
Die Leute aus der Stadt, denn solche waren es, gingen durch die Haupttür hinein, wo schon Ole Aae in höchsteigener Person, seine Frau Bodil und seine Tochter Rønnaug standen, um die Gäste willkommenzuheißen.
Es kam ein siebter Wagen, mit dem Gepäck der Gäste. Gefahren wurde die Kutsche von einem jungen, aber sehr häßlichen und schmächtigen Mann. Seine großen Nasenlöcher blähten sich wie die Nüstern eines Pferdes. Seine Augen waren glanzlos wie bei einem gekochten Fisch. Die Nase wies einige Hügel und Täler auf, sie war lang, hatte jedoch keine Spitze. Es sah aus, als habe sie einst eine gehabt und als sei diese mit einem Schlag abgehackt worden. Um den Mund wuchsen Haare, die aussahen wie die Schnurrhaare einer Katze. Wahrscheinlich ließ der Mann sie wachsen, um seine hängenden Lippen zu verbergen, was jedoch gründlich mißlang, weil der Bart so dünn war. Er wurde Rønnaug als Student Horn vorgestellt, der zum Vergnügen mit nach Aabakken gekommen war. Er versuchte, sehr einnehmend zu wirken, doch davon konnte natürlich keine Rede sein. Es war schon ziemlich spät, als dieser Gast nach Aabakken kam. Es war Zeit für das Abendessen, und die Gäste begaben sich ins Eßzimmer. Doch der erwähnte Horn saß still und reglos da, anscheinend ganz und gar versunken in den Anblick, der sich ihm bot. Dieser Anblick war Rønnaug. Er hatte sich ihr gegenüber hingesetzt, während sie an einem Strumpf strickte. Als er sah, daß diese Arbeit kein Ende nahm, schlug er vor, im Garten spazierenzugehen. Rønnaug war so in Gedanken, daß sie die Aufforderung nicht hörte oder eher nicht hören wollte.
Ihr Vater sagte: „Rønnaug, leg den Strumpf weg! Der Student möchte sich im Garten umsehen, begleite ihn.“
Uff, wie gemein ihr Vater war! Sie wäre lieber eine ganze Meile marschiert, als mit einem solchen Kerl ein paar Schritte durch den Garten zu gehen.
Aber natürlich mußte sie höflich sein, also nahm sie ihr Umhängetuch – das sie auch selbst gestrickt hatte – und machte sich zum Aufbruch bereit.
„So, Herr Horn, nun stehe ich Ihnen zur Verfügung und führe Sie gern durch den Garten“, sagte Rønnaug. Man hätte ihr kaum soviel Takt zugetraut, aber sie war ja mit den Leuten aus der Stadt bekannt und hatte einiges von ihnen gelernt.
Im Garten setzte Horn sich auf eine Bank, ohne die Blumen und das Obst anzusehen. Er wollte, daß auch Rønnaug Platz nahm, doch sie lehnte ab. Er saß lange da und sah Rønnaug an, ohne ein Wort zu sagen. Als er endlich den Mund aufbekam, sagte er etwas Belangloses über das Leben in der Stadt. Er fand, daß Rønnaug in die Stadt kommen sollte, um „Manieren“ zu lernen. Rønnaug antwortete mit einem Schulterzucken: „Als Bauernmädchen brauche ich nicht mehr Bildung und Manieren, als ich schon habe.“ Das sagte sie natürlich übereilt und ohne weiter nachzudenken. Manieren kann man nie zuviel haben, weder auf dem Land noch in der Stadt. Horn rückte Rønnaug immer mehr auf die Pelle. Zuletzt wollte er sogar, daß sie sich auf seinen Schoß setzte, aber Rønnaug weigerte sich entschieden. Der Leser wundert sich vielleicht über Horns Aufdringlichkeit, doch er war bis über beide Ohren in sie verliebt. Das begriff Rønnaug nur zu gut, aber sie tat so, als würde sie nichts verstehen.
„Möchten Sie jetzt vielleicht ins Bett gehen?“ fragte Rønnaug.
„Wenn ich das will, wird es mir wohl gelingen, bestes Mädchen“, sagte Horn, der sich von seiner vorteilhaftesten Seite zeigen wollte.
„Wenn Sie mitkommen, zeige ich Ihnen gern Ihr Zimmer.“
„Danke, ich komme sofort.“ Er tat es ungern, doch nun mußte er mitgehen. „Gute Nacht“, sagte er, als Rønnaug sich zum Gehen wandte, „schlafen Sie gut.“
„Danke, gleichfalls.“ Rønnaug war froh, Herrn Horn so leicht losgeworden zu sein. Sie eilte die Treppe hinunter und hinaus ins Freie. Der Himmel war klar, die Sonne kaum noch zu sehen, ihre letzten Strahlen gaben zu erkennen, daß auch sie im Begriff war, sich zur Ruhe zu begeben. Aus dem Wald hörte man Vogelgezwitscher, der Duft der Gartenblumen lag in der Luft, und Rønnaug fand den Abend herrlich. Ohne nachzudenken, lief Rønnaug in den Wald. Sie summte das Lied vor sich hin, das sie schon gesummt hatte, als wir sie das letztemal im Wald gesehen haben, und vielleicht dachte sie an denjenigen, an den sie auch damals gedacht hatte. Wer war es?

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