7. Das Geheimnis kommt ans Licht

Der Morgen brach an. Die Sonne schien. In den Bäumen saßen Hunderte Vögel und sangen, der Himmel war klar und blau. Kein Lüftchen wehte. Inmitten der Stille der Natur saßen zwei Liebende an dem kleinen Fluß am Fuß von Aabakken. Es waren Rolf und Rønnaug. Sie waren früh auf, und da das Wetter so schön war, genossen sie den herrlichen Morgen. Wenn Ole Aae sie gesehen hätte, hätte er sicher gesagt, daß Rolf ihr wieder „nachgeschlichen“ wäre, doch das war nicht der Fall. Die mächtigen Hände des Schicksals hatten sie an diesem Fluß zusammengeführt. Hier saßen sie. Rolf strahlte vor Freude, weil er seinen geliebten Schatz auf dem Schoß hatte, Rønnaug völlig hingerissen von der Natur und selig über Rolfs Liebe.
„Wie hast du nach dem Streit geschlafen?“ fragte Rolf.
„Oh – ganz gut.“
Sie saßen eine Weile schweigend da, dann nahm Rolf Rønnaugs Hände in seine. Und er sagte: „Da wir nun Freunde fürs Leben sind, habe ich beschlossen, dir heute zu erzählen, mit wem du Freundschaft geschlossen hast, wen du liebst und mit wem du redest.“ So fing er an. „Ich bin in der Stadt geboren. Meine Eltern wohnten dort und waren reiche Kaufleute. Mein Vater beschloß, daß ich – wenn ich erst alt genug wäre – sein Partner werden sollte. Ich hatte nie großes Interesse am Geschäft, ich wollte studieren. Vater war nicht einverstanden. Er meinte, ich hätte ,das Zeug zu etwas anderem als zum Pfarrer‘, und ich glaube gern, daß ich auch nicht das Zeug zum Geschäftsmann hatte. Aber ich wußte, was ich wollte, und ich wollte studieren. Auf einmal starb meine geliebte Mutter.“ Hier hielt Rolf inne und trocknete sich die Augen mit dem Hemdsärmel. „Als Mutter tot war“, fuhr er fort, „ging ich wieder nach Hause zu Vater. All meine Lust zum Lernen war mit meiner Mutter gestorben. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich empfand insgeheim Abscheu vor der Universität und den Professoren, ja, für den gesamten Klerus. Nun widmete ich mich mit Eifer dem Geschäft. Das, was ich zuvor abgelehnt hatte, zog mich nun an. Vater war ein großer Unternehmer. Er machte Geschäfte im Ausland mit mehreren Handelshäusern. Er war sehr stolz auf seinen Sohn, wenn dieser sinnvolle Antworten auf seine Fragen geben konnte. Sein größter Wunsch war, mich auszubilden, damit ich ein ebenso erfolgreicher Kaufmann würde wie er. Auf einmal änderten sich die Geschäfte. Mein Vater hatte einen Berg Schulden angehäuft – einmal bei einer Bank, dann wieder Aktien bei mehreren Dampfschiffen. Dann gingen mehrere kleine Kaufleute in der Stadt bankrott, und Vater mußte dafür bürgen. Kurz: Er hatte sich mit unglücklichen Spekulationen ruiniert. Er überlegte hin und her, all die verwünschten Wechsel zu stoppen, ebenso, das Handelshaus Sonnenfield & Co. als bankrott zu melden, doch sein Stolz ließ es nicht zu. Dann kam eines Tages ein Verwalter in unser Büro. Ich stand dabei und arbeitete so angestrengt, daß mir der Schweiß auf der Stirn stand – ich war dabei, eine Forderung einer ausländischen Firma zu beantworten. Er brachte einen fälligen Wechsel.
,Wir haben kein Geld‘, sagte Vater.
Der Verwalter ging.
Da sah ich Vater vor Verzweiflung beinahe untergehen.
,Knud‘, sagte er (ich – heiße nicht Rolf).
,Was willst du, lieber Vater?‘
,Hören, was wir deiner Meinung nach tun sollen.‘
,Die Forderungen der Gläubiger erfüllen, soweit wir können‘, sagte ich.
,Das ist nicht meine Absicht.‘
,Was ist denn deine Absicht?‘
,Das wirst du schon sehen.‘
Ich arbeitete rastlos und fieberhaft weiter. Als ich nach Hause kam, hörte ich, daß Vater krank sei. Ich eilte zu ihm und fand ihn in heftigem Fieber vor, er phantasierte. Ich ließ sofort den Arzt rufen, doch der sagte, es sei zu spät. Vater lag im Sterben, er hatte einen Schlaganfall erlitten. Ich wachte die ganze Nacht an seinem Bett, und am nächsten Mittag schlief mein Vater – im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte – für immer ein.“ Hier hielt Rolf – wir wollen ihn so nennen – inne und wischte sich eine Träne weg.
Rønnaug strich ihm über die Wange und nahm seine Hand. Sie saßen lange da und sahen sich an. In seinen Augen brannte ein seltsames Feuer, doch er war mild und liebevoll. „Wie kam es dazu?“ fragte Rønnaug kaum hörbar. Es klang, als hätte sie Angst vor der Antwort.
„Ja, laß mich die Geschichte zu Ende erzählen. Ich ging trostlos in den Laden hinunter und verabschiedete unsere Leute. Ich war hungrig, durstig und müde, aber vor Kummer brachte ich nichts hinunter. Das erste, worauf mein Blick fiel, als ich ins Büro kam, war eine viereckige Schatulle, hübsch mit Eisenbeschlägen und mit einem Schloß versehen. Der Schlüssel war mit einem Seidenband am Henkel festgebunden und steckte mitten im Knoten. Auf der Schatulle stand: ,Knud Sonnenfield‘. Sie war also für mich. Ich zerschnitt das Band, an dem der Schlüssel befestigt war, und schloß die Kassette eiligst auf. Das erste, was ich sah, war ein Brief an mich.“ Bei diesen Wortengriff Rolf in seine Tasche und holte ein Notizbuch heraus. Er blätterte darin und fand den Brief. „Hier ist er – hör zu, dann lese ich dir vor, was Vater wünschte.
‚Erst nach meinem Tod öffnen! Knud Sonnenfield!
Ich spüre nun, daß ich bald Deiner seligen Mutter folgen werde. Es ist mein Wunsch, daß Du gut versorgt bist. In der Kasse findest Du 15. 000 Speciedaler. Die werden Dein Auskommen sichern. Damit die Gläubiger Dich nicht erwischen, geh eine Weile aufs Land, und wenn dort Dein Blick auf eine ,Dorfschönheit‘ fällt, erwähle sie Dir zur Lebensgefährtin, vorausgesetzt, sie erfüllt Deine Forderungen. Wende Dich an meinen Freund, Herrn Anwalt Lombe. Mach ihn zu Deinem Vertrauen und laß Dich von ihm beraten, wie Du auftreten sollst. Auf dem Lande kannst Du einen Bauernnamen annehmen, zum Beispiel Rolf Andersen, und Dir einen Geschäftspartner suchen, wenn Du z. B. – um jeden Verdacht von Dir abzulenken – eine Weile Kätner auf irgendeinem Hof wirst. Diesem Mann mußt Du alles erzählen und ihn bitten, Dich nicht zu verraten. Gib ihm etwas Geld dafür. Meine Zeit ist kurz, und ich empfehle meine Seele Gottes Hand. Leb wohl! Leb wohl, Knud! Möge Gottes schützende Hand immer über Dir wachen. Ich hoffe, Du hörst auf meinen Rat. Das ist mir wichtig.
Leb wohl, Knud! Und vergiß nicht den Rat Deines sterbenden Vaters. Ich gehe nun in die Ewigkeit ein mit Deinem Segen auf den Lippen. Gott helfe Dir und Deinem sterbenden Vater
Rich. Sonnenfield.
P. … Juni 18**
Hier hielt Rolf inne, weil er weinen mußte. Rønnaug tröstete ihn damit, daß er ja getan habe, worum sein seliger Vater ihn gebeten hatte.
„Ich habe nicht alles getan, worum Vater mich gebeten hat.“
„Vielleicht findest du nicht, daß es dir nützt?“
„Doch, es nützt uns beiden, vorausgesetzt, daß du die ,Dorfschönheit‘ sein willst, von der Vater gesprochen hat.“
„Ja, o ja!“ antwortete Rønnaug entzückt und schlang Rolf die Arme um den Hals.
„Wirklich?“
„Ja, wenn du auch willst.“
„Wie kannst du das nur fragen, meine liebe Rønnaug! Mein Glück ist vollkommen, wenn du mir gehörst.“
„Ja, auf Zeit und Ewigkeit!“
Eine innige Umarmung folgte darauf, und zum erstenmal drückte Rolf einen Kuß auf Rønnaugs Lippen. Es war für beide der schönste Augenblick ihres Lebens, und alle Liebenden kennen diesen Moment. Der Himmel, die Wiese, das Wetter und der kleine silberne Bach, alles ringsum war wunderschön, über und unter dem Paar. Aber Rolf und Rønnaug hatten nicht viel Zeit, sich in den Armen zu liegen und Gottes herrliche Natur zu bewundern.
Die Uhr auf Aabakken schlug acht, und man würde Rønnaug bald am Tisch vermissen. Sie machte Rolf – wenn auch schweren Herzens – darauf aufmerksam, und er sagte bekümmert, daß sie gehen müsse.
„Schluß jetzt – ich muß abreisen.“
„Wohin? Und wann?“ fragte Rønnaug niedergeschlagen.
„Jetzt – heute abend.“
„Großer Gott“, sagte Rønnaug und ließ sich ins Gras sinken.
Rolf zog sie hoch und erklärte in gewählten Worten, daß die Fahrt zu Anwalt Lombe unumgänglich sei. „Aber“, schloß er, „mach dir keine Sorgen deswegen, ich bin in einem Monat wieder da, und dann führe ich dich als meine Braut heim.“
Diese Worte beruhigten sie ein wenig, aber sie war trotzdem bekümmert bei dem Gedanken an den Abschied, doch es mußte sein.
„Vielleicht sehen wir uns nicht mehr, um einander auf Wiedersehen zu sagen, deshalb tue ich es jetzt.“ Damit nahm er Rønnaug in die Arme und gab ihr einen langen innigen Kuß. „Leb wohl, meine Rønnaug! Liebe mich weiterhin so wie die ganze Zeit, auf mich kannst du dich verlassen.“
„Ja, immer. Verlaß dich auch auf mich.“
„Ja. Wir sehen uns in einem Monat.“

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