Posts

8. Große Veränderungen. Die Heimkehr

Aber seit diesen Worten war ein Jahr vergangen. Immer noch hatte Rønnaug nichts von ihm gesehen. Trotzdem hielt sie sich an ihr Versprechen. Viele reiche vornehme junge Männer hatten um ihre Hand angehalten, doch Rønnaug erinnerte sich stets an die Worte „Du kannst mir vertrauen, wir sehen uns in einem Monat“. Ihrem Vater gefiel es nicht, daß Rønnaug alle ablehnte. „Du mußt dich für einen entscheiden, Rønnaug“, sagte er oft. Aber sie hatte sich schon ja für einen entschieden. Müßte er nicht bald kommen? * Auf Grankveen waren im vergangenen Jahr große Veränderungen vor sich gegangen. Anders und Rolf waren weggezogen. „So gewissenhafte Pächter für Grankveen bekomme ich nie wieder“, pflegte Ole Aae zu sagen, wenn von Rolf und Anders die Rede war. Und das stimmte. Auf Grankveen wohnte jetzt ein anderer Mann. Er war auch strebsam und fleißig, aber ach, er war arm. Er hatte Mühe, die Skillinge zusammenzukratzen, um die Pacht aufzubringen. Ole Aae wurde darauf aufmerksam, weil Rønnaug es

7. Das Geheimnis kommt ans Licht

Der Morgen brach an. Die Sonne schien. In den Bäumen saßen Hunderte Vögel und sangen, der Himmel war klar und blau. Kein Lüftchen wehte. Inmitten der Stille der Natur saßen zwei Liebende an dem kleinen Fluß am Fuß von Aabakken. Es waren Rolf und Rønnaug. Sie waren früh auf, und da das Wetter so schön war, genossen sie den herrlichen Morgen. Wenn Ole Aae sie gesehen hätte, hätte er sicher gesagt, daß Rolf ihr wieder „nachgeschlichen“ wäre, doch das war nicht der Fall. Die mächtigen Hände des Schicksals hatten sie an diesem Fluß zusammengeführt. Hier saßen sie. Rolf strahlte vor Freude, weil er seinen geliebten Schatz auf dem Schoß hatte, Rønnaug völlig hingerissen von der Natur und selig über Rolfs Liebe. „Wie hast du nach dem Streit geschlafen?“ fragte Rolf. „Oh – ganz gut.“ Sie saßen eine Weile schweigend da, dann nahm Rolf Rønnaugs Hände in seine. Und er sagte: „Da wir nun Freunde fürs Leben sind, habe ich beschlossen, dir heute zu erzählen, mit wem du Freundschaft geschlossen has

6. Nächtliche Abenteuer im Wald

Als Rolf nach Hause kam, sah sein Vater ihn an und sagte: „Du bist spät, mein Junge.“ „Ja! Ich hatte viel zu tun.“ „Wie das?“ wunderte sich der Vater. „Dieser Grundherr ist kein Geschäftsmann. Er wollte mir keine Quittung geben, also mußte ich sie selbst schreiben.“ „Du hast sie geschrieben?“ „Ja, warum nicht?“ „Es war unklug. Du bist zu dummdreist! Hat er keinen Verdacht geschöpft?“ „O nein.“ „Das war das letztemal, daß du die Pacht ablieferst“, sagte der Vater energisch und forderte die Haushälterin – seine Frau war nämlich tot – auf, Rolf sein Essen hinzustellen. „Danke, ich habe keinen Hunger“, sagte Rolf. „Na, na! Was ist los?“ „Nichts.“ „Dann geh ins Bett.“ „Noch nicht. Ich mache erst noch einen kleinen Spaziergang.“ Mit diesen Worten ging Rolf zur Tür hinaus und lenkte seine Schritte in Richtung Pfarrhof. Heute – genauer gesagt, heute abend – trug Rolf andere Kleidung als beim letztenmal. Sie bestand aus grauem Wadmal: Ein Jackett, lange Hosen, Lederschuhe mit Messi

5. Die Leute aus der Stadt

Es war spät am Abend, als Rønnaug ihren Platz am Fenster verließ. Als Rolf aus ihrer Sichtweite verschwunden war, stieß sie einen Seufzer aus, der jedoch längst nicht so schmerzerfüllt klang wie der von Rolf. Plötzlich ging die Tür auf, und ihr Vater trat ein. Er sah grimmig aus. Er schien nach etwas zu suchen, und als sein Blick auf Rønnaug fiel, ging er zu ihr, sah ihr in die Augen und sagte barsch: „Wonach hältst du Ausschau?“ „Ich denke nach.“ „Über Vagabunden oder Landstreichergesindel?“ Rønnaug begriff natürlich, was ihr Vater meinte, doch sie sagte: „Weder noch.“ „Du hast in der Küche zu tun. An die Arbeit!“ Zögernd kam Rønnaug dem Befehl nach. Sie wäre gern stehengeblieben und hätte die Stelle angestarrt, an der Rolf verschwunden war, doch die Wünsche ihres Vaters waren für sie Gesetz, und sie mußte gehorchen. An diesem Abend war sie seltsam. Ihr gingen soviele Gedanken durch den kleinen hübschen Kopf. Ihr wurde leichter ums Herz, als die Glocke zum Abendessen rief. Sie

4. Die Quittung

Es war schon spät, als Rolf zu seinem Vater nach Hause kam. Die Sonne war schon beinahe untergegangen, und die Waldvögel sangen ihr Abendlied für den Schöpfer, der für sie sorgte. „Wo warst du so lange?“ „Ich habe nur einen Spaziergang gemacht“, antwortete Rolf geistesabwesend. „Es ist Zeit für die Pacht. Vielleicht bringst du Aae das Geld?“ „Ja, gib es mir, ich gehe schon.“ Rolf ging schnellen Schrittes den Hügel nach Aabakken hinauf. Er ging in die Küche, begegnete Rønnaug und sagte: „Danke für letztes Mal.“ Und: „Ich möchte mit deinem Vater reden. Ich bringe die Pacht.“ „Du bist ja sehr pünktlich, Rolf.“ „Ja, das haben Vater und ich versprochen, und wir sind keine Lügner.“ „Das dachte ich auch nicht.“ „Natürlich nicht. Verzeihung!“ „Schon gut“, sagte Rønnaug mit strahlenden Augen. „Wo ist dein Vater?“ „Hier, geh nur hinein. Er ist allein.“ Rolf wagte sich kaum hinein und errötete, als Rønnaug ihm einen Stuhl hinschob. „Ich bringe Ihnen das Geld.“ „Welches Geld?“ „Di

3. Vermutungen über Rolf Andersen

Der Hof Aabakken lag wie gesagt auf einem Hügel. Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick auf die umliegenden Bauernhöfe, die Kirche und das Pfarrhaus, das ungefähr drei Kilometer von Aabakken entfernt lag. Eines Nachmittags, als die anderen Männer nach dem Mittagessen dalagen und sich ausruhten, ging ein junger Mann grübelnd von Aabakken zum Pfarrhaus. Vielleicht war uns dieser Junge nicht ganz unbekannt. Es war Rolf Andersen. Wir können ihn nur am Gesicht erkennen, denn er hatte seine Kleidung, die aus einem abgeschnittenen Mantel, einer zerschlissenen Hose, einem Strohhut und eisenbeschlagenen Stiefeln bestanden hatte, eingetauscht – gegen neue, moderne Sachen aus Wadmal, neue Lederstiefel und einen flachen Filzhut, dessen Seidenband mit schönen Vergißmeinnicht bestickt war. Die Weste war aus selbst gesponnenem, rotkarierten Stoff, und aus ihrer rechten Tasche schaute eine große altmodische silberne Uhr hervor. Er ging langsam und blieb dann und wann stehen, als würde er auf e

2. Die Bekanntschaft

An einem heißen Nachmittag – kurz nachdem Jens Klæp Aabakken verlassen hatte – stand ein Bauernjunge am Zaun des Hofes. Er trug eine alte Hose und ein zerlumptes Hemd. Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich letzteres als abgeschnittener Mantel – die Schöße fehlten. Der Blick seiner großen blauen Augen ruhte verträumt auf dem Wesen, das seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Auf dem Kopf trug er einen zerfransten Strohhut, der einst schwarzweiß gewesen war. Mittlerweile war das Schwarze vom Regen verwaschen, hatte sich mit dem Weißen vermischt, und so war der Hut nunmehr grau. Die Füße steckten in Schuhen, deren Sohlen mit Draht angenäht waren – und das war die ganze Bekleidung des jungen Mannes. Er lehnte am Zaun, der leichte kühle Wind zauste seine dunkelblonden Haare, und er gab vor dem blauen Himmel und der untergehenden Sonne ein malerisches Bild ab. Er schien in Gedanken versunken, als plötzlich eine schüchterne, kindliche Stimme ertönte: „Guten Tag. Wo kommst du her?“ „Guten Tag“