2. Die Bekanntschaft

An einem heißen Nachmittag – kurz nachdem Jens Klæp Aabakken verlassen hatte – stand ein Bauernjunge am Zaun des Hofes. Er trug eine alte Hose und ein zerlumptes Hemd. Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich letzteres als abgeschnittener Mantel – die Schöße fehlten. Der Blick seiner großen blauen Augen ruhte verträumt auf dem Wesen, das seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Auf dem Kopf trug er einen zerfransten Strohhut, der einst schwarzweiß gewesen war. Mittlerweile war das Schwarze vom Regen verwaschen, hatte sich mit dem Weißen vermischt, und so war der Hut nunmehr grau. Die Füße steckten in Schuhen, deren Sohlen mit Draht angenäht waren – und das war die ganze Bekleidung des jungen Mannes.
Er lehnte am Zaun, der leichte kühle Wind zauste seine dunkelblonden Haare, und er gab vor dem blauen Himmel und der untergehenden Sonne ein malerisches Bild ab. Er schien in Gedanken versunken, als plötzlich eine schüchterne, kindliche Stimme ertönte: „Guten Tag. Wo kommst du her?“
„Guten Tag“, antwortete der Bauernjunge errötend. Er wandte den Kopf und entdeckte eine Gruppe junger Mädchen, darunter Rønnaug Aae. „Von der Kate Grankveen“, antwortete er.
„Ah! Bist du vielleicht der Sohn des neuen Kätners da unten?“ fragte Rønnaug wieder.
„Ja“, sagte der Junge mit einem Seufzer. Der entfuhr ihm wohl beim Gedanken an den ärmlichen Aufzug, in dem er vor den hübschen, gut gekleideten Bauernmädchen stand. Also nur ein Kätnersohn, dachte Rønnaug, aber laut sagte sie: „Dann hoffe ich, daß es mit deinem Vater nicht so geht wie mit Jens Klæp.“
„Das hoffe ich auch“, sagte der Junge mit einem sonderbaren Lächeln, „aber solltest du erfahren, daß Anders Grankveen und sein Sohn nicht alle Arbeitstage ableisten oder die Pacht nicht pünktlich bezahlen, ist einer von uns beiden krank.“
„Das will ich hoffen“, sagte Rønnaug und machte Anstalten, zu den anderen Mädchen zu gehen, die sich zurückgezogen hatten. Doch vorher sagte sie: „Gib mir die Hand und sag mir, daß wir Freunde sein wollen.“
Unter anderen Umständen wäre sie sicher nicht so direkt gewesen, doch als sie vor diesem schüchternen und schönen Menschen stand, hatte sie das Gefühl, daß er es nicht übelnehmen würde, wenn sie einen Kuß verlangt hätte.
Er gab ihr die Hand. Zwei schönere Bauernhände waren sich selten begegnet.
Sie sah ihn an, er sah sie an. Seine dunklen Augen hatten wieder den verträumten Ausdruck angenommen, doch man sah ein Funkeln in ihnen.
Aber warum stehen wir hier und starren uns an, willst du mein Freund sein?“ fragte Rønnaug. Sie hatte das Gefühl, daß sie von einer dämonischen Macht gefesselt wurde und sich losreißen mußte. Sie sah ihn beinahe liebevoll an.
„Ja, gern, wenn meine Freundschaft dich interessiert“, antwortete er. „Wie heißt du, schönes Mädchen?“ fragte er. Offenbar hatte Rønnaugs Direktheit seine Schüchternheit vertrieben.
„Rønnaug Aae“, sagte sie. Sie hielt immer noch die Hand des Jungen. „Und du, mein Freund?“
„Rolf Andersen.“
„Das ist ja ein lustiger Zufall – Rolf und Rønnaug, Aae und Andersen! Hat man so etwas schon gehört? Ja, wir sehen uns sicher bald wieder?“ Noch ein langer Blick – dann war Rønnaug wieder bei ihren Freundinnen.

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