3. Vermutungen über Rolf Andersen

Der Hof Aabakken lag wie gesagt auf einem Hügel. Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick auf die umliegenden Bauernhöfe, die Kirche und das Pfarrhaus, das ungefähr drei Kilometer von Aabakken entfernt lag.
Eines Nachmittags, als die anderen Männer nach dem Mittagessen dalagen und sich ausruhten, ging ein junger Mann grübelnd von Aabakken zum Pfarrhaus. Vielleicht war uns dieser Junge nicht ganz unbekannt. Es war Rolf Andersen. Wir können ihn nur am Gesicht erkennen, denn er hatte seine Kleidung, die aus einem abgeschnittenen Mantel, einer zerschlissenen Hose, einem Strohhut und eisenbeschlagenen Stiefeln bestanden hatte, eingetauscht – gegen neue, moderne Sachen aus Wadmal, neue Lederstiefel und einen flachen Filzhut, dessen Seidenband mit schönen Vergißmeinnicht bestickt war. Die Weste war aus selbst gesponnenem, rotkarierten Stoff, und aus ihrer rechten Tasche schaute eine große altmodische silberne Uhr hervor. Er ging langsam und blieb dann und wann stehen, als würde er auf etwas lauschen. Oft murmelte er abgerissene Sätze zwischen den Zähnen vor sich hin. Plötzlich blieb er wieder stehen, stand eine Weile still, dann drehte er sich rasch um und ging den staubigen Weg zurück, obwohl es nur noch zwanzig Schritte bis zum Pfarrhaus waren. Eine Weile ging er schnell und erhobenen Hauptes und schaute nach vorn, doch plötzlich hörte er einen Laut. Er senkte den Kopf, und seine Wangen wurden feuerrot. Dann warf er einen verstohlenen Blick an den Wegesrand und sah einen Schatten und dann zwei kleine Füße. Es war Rønnaug Aae. Sie summte eine Melodie vor sich hin, bis sie Rolf sah, dann verstummte sie. Sie erkannte ihn nicht, und das war kein Wunder, denn er war ja ein ganz anderer Mensch. Doch er hatte Rønnaugs Stimme erkannt, als sie summte, tat aber, als sei er völlig ahnungslos. Sie hatte Blumen gepflückt und hielt einen großen Strauß in der Hand. Rolf ging langsamer, und Rønnaug holte ihn ein. Dann erkannte sie ihn, stieß einen Laut der Überraschung aus, reichte ihm die Hand und sagte: „Rolf!“
„Rønnaug – du hier“, sagte Rolf und nahm ihre ausgestreckte Hand. Er drückte sie warm und zärtlich.
„Ich habe oben auf dem Hügel Blumen gepflückt. Sonntagabend findet ein Ball statt, und dann kommen sicher Gäste aus der Stadt, Vaters Verwandte. Die Blumen stelle ich in die Vase, dann sind sie noch frisch, wenn die Gäste kommen“, sagte Rønnaug zur Erklärung. Ihr war nur allzu bewußt, daß sie in der Gesellschaft weit über Rolf stand. Rolf war und blieb verlegen. Er stieß wieder einen dieser tiefen Seufzer aus, die Rønnaug zu Herzen gingen und ihr deutlich sagten, daß er ein unwissender, einfacher Junge war, der kaum wußte, wie man fuhr, pflügte, säte und andere Arbeiten eines Bauern verrichtete.
„Sei nun nicht so verlegen“, sagte Rønnaug. „Laß uns auf dem Heimweg ein bißchen plaudern, oder“, sagte sie, zufrieden mit ihrer neuen Idee, „wir setzen uns eine Weile auf diese Wiese.“
„Nein, das geht nicht …“
„Und warum nicht?“ fragte sie traurig.
„Weil – ja, weil Vater zu Hause auf mich wartet“, sagte Rolf.
Rønnaug wußte sofort, daß es eine Ausrede war, denn er trug ja keine Arbeitskleidung und geriet sichtlich in
Verlegenheit, weil er nicht die Wahrheit sagte. „Ach Unsinn, komm schon, Rolf!“
„Nein“, sagte Rolf bestimmt. „Ich erkläre dir bei Gelegenheit, warum.“ Rønnaug wunderte sich über diese Entschiedenheit – früher hatte sie den Eindruck gehabt, Rolf würde ihr keinen einzigen Wunsch abschlagen, doch jetzt wollte er nicht neben ihr sitzen. Sie verstand Rolf nicht, sie wurde nicht klug aus ihm. Er hatte sich in letzter Zeit die Sprache und das Auftreten eines vornehmen Mannes angewöhnt. Aus dem Bauernjungen war ein Herr aus der Stadt geworden. War er gar kein Bauernsohn? Und warum war er der Sohn eines Kätners? Diese Gedanken beschäftigten Rønnaug auf dem Nachhauseweg.

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