6. Nächtliche Abenteuer im Wald

Als Rolf nach Hause kam, sah sein Vater ihn an und sagte: „Du bist spät, mein Junge.“
„Ja! Ich hatte viel zu tun.“
„Wie das?“ wunderte sich der Vater.
„Dieser Grundherr ist kein Geschäftsmann. Er wollte mir keine Quittung geben, also mußte ich sie selbst schreiben.“
„Du hast sie geschrieben?“
„Ja, warum nicht?“
„Es war unklug. Du bist zu dummdreist! Hat er keinen Verdacht geschöpft?“
„O nein.“
„Das war das letztemal, daß du die Pacht ablieferst“, sagte der Vater energisch und forderte die Haushälterin – seine Frau war nämlich tot – auf, Rolf sein Essen hinzustellen.
„Danke, ich habe keinen Hunger“, sagte Rolf.
„Na, na! Was ist los?“
„Nichts.“
„Dann geh ins Bett.“
„Noch nicht. Ich mache erst noch einen kleinen Spaziergang.“ Mit diesen Worten ging Rolf zur Tür hinaus und lenkte seine Schritte in Richtung Pfarrhof. Heute – genauer gesagt, heute abend – trug Rolf andere Kleidung als beim letztenmal. Sie bestand aus grauem Wadmal: Ein Jackett, lange Hosen, Lederschuhe mit Messingbeschlägen, eine Weste mit zwei Knopfreihen und eine seidene Hose, alles sehr modern geschnitten. Rolf sah in dieser Aufmachung, die ihm gut stand, aus wie ein Gentleman, und so bewegte er sich auch. Oben auf der Anhöhe bei Aabakken setzte er sich an eine blumenbewachsene Stelle, pflückte ein paar Vergißmeinnicht und band sie zusammen – mit einer Levkoje in der Mitte. Als der Blumenstrauß fertig war, steckte er es in den Gummigürtel seiner Hose. Jetzt stand ihm die Mütze noch besser als vorher. Er sah aus wie ein Künstler, der von einer Dame bekränzt worden war. Er setzte sich hin und stützte den Kopf in die Hand, starrte vor sich und dachte an den Tag, als er zuletzt hier gewesen war und wen er da getroffen hatte. Während er dasaß, rutschte ihm der Blumenstrauß von der Mütze. Er sah ihn an und sagte zu sich selbst: „Staub! Vom Staub sind wir gekommen, zu Staub werden wir. Es geht uns so wie diesen Blumen, eine Weile blühen sie, doch dann verwelken sie und sinken ins Grab. Oh! Wer darauf vorbereitet ist!“ Er saß noch nicht lange dort, da hörte er einen Laut, der klang wie Gesang. Er stand auf, hob den Blumenstrauß auf und heftete ihn an sein Jackett. Er ging dem Laut nach. Als er näherkam, hörte er deutlich, daß jemand sang, und er erkannte auch die Stimme. Es war Rønnaug. Er fragte sich, ob er zu ihr gehen oder umkehren sollte. Warum nicht hingehen? Rønnaug würde es sicher nicht übelnehmen, wenn sie gestört würde. Sie sah bekümmert und doch wunderschön aus. Er lauschte auf die Worte und verstand jedes einzelne:
„Einsam gehe ich und wandere hier,
Meine Gedanken sind bei dir.
Kommst du niemals mehr zu mir?
Sag es mir.“
Sein Herz blutete, als er diese Worte hörte. Eifersucht stieg in ihm auf. Aber welchen Grund hatte er dazu? Er trat vor, räusperte sich einmal, und als Rønnaug aufblickte, sah sie den, von dem sie sang.
„Rolf!“
„Rønnaug!“
Und da lagen sie sich in den Armen. Er drückte ihr einen Kuß auf die Wange, und sie setzte sich auf seinem Schoß. Sie nahm ihm den Hut ab, strich seine weichen dunklen Haare glatt und wollte wissen, warum er bei ihrer letzten Begegnung – trotz ihrer Aufforderung – nicht länger geblieben war.
Er antwortete, daß er gefürchtet habe, ihr Vater würde aus dem Fenster schauen und sie beide sehen – und außerdem mißfielen ihm solche Zusammenkünfte. Sie war der gleichen Meinung und dankte ihm für seine Umsicht.
„Sieht dein Vater uns jetzt nicht?“
„Das glaube ich nicht, er liegt sicher schon im Bett.“
„Aber wenn nicht, sieht er vielleicht doch, und das würde keinen Anklang bei ihm finden! Für mich ist es egal, aber es ist schlimmer für …“
„Pst!“ Sie nahm Rolfs Hand und drückte sie. Den freien Arm schlang sie ihm um den Hals. „Da kommt jemand!“
Er strich ihr über die Wange und setzte sie neben sich. „Sieh nur“, sagte er dann.
Das Geräusch kam näher – es war Rønnaugs Vater. Er marschierte mit zorniger Miene auf Rønnaug zu, packte sie am Arm und zog sie mit sich, ohne etwas zu sagen.
Rolf blieb nachdenklich sitzen. Es war seltsam, daß Ole Aae kein böses Wort sagte, weder zu Rønnaug noch zu Rolf; letzteren hatte er allerdings ignoriert.
Was sollte Rolf jetzt tun? Es ärgerte ihn, daß so etwas vor seiner Nase geschehen war und er sich nicht einmal von Rønnaug hatte verabschieden können. Er sprang auf und eilte den beiden nach.
Auf dem Weg hörte er die zornige Stimme von Rønnaugs Vater, und er fürchtete, daß dieser das Mädchen in seinem Groll hart anpacken würde, ja sogar, daß er Rønnaug ungeachtet ihrer fünfzehn Jahre eine Tracht Prügel verabreichen würde. Rolf rannte, blieb stehen, lauschte und eilte wieder weiter, so schnell er konnte. Er holte die beiden ein, als sie gerade im Begriff waren, von der Hauptstraße in Richtung Aabakken abzubiegen. Jetzt verlangsamte Rolf sein Tempo.
Ole Aae sah sich um und entdeckte Rolf.
Rolf nahm höflich den Hut ab, doch der verbitterte Alte erwiderte seinen Gruß nicht.
„Habe ich Sie gekränkt?“ fragte Rolf und holte Atem.
„Was läufst du hier herum und verführst Rønnaug?“
„Verführen? Wir sind uns im Wald begegnet.“
„Begegnet? Du bist ihr nachgeschlichen – ich habe es gesehen!“
„Das ist eine verdammte Lüge“, antwortete Rolf aufgebracht.
„Nein, Vater, es ist nicht wahr. Rolf ist unschuldig.“
Sie waren jetzt bei der Pforte angekommen – der großen weißgestrichenen Pforte. Hier saß ein Bronzelöwe, der sich mit seinem Glanz von dem geteerten Pfad abhob. „Ja, dann ist er eben unschuldig, aber du gehst jetzt sofort ins Haus und ins Bett – Punkt!“
„Komm, Rolf! Sag mir gute Nacht!“
„Gute Nacht, und schlaf gut!“ Rolf wandte sich zum Gehen.
Rønnaugs Vater folgte ihm seltsamerweise. Als sie wieder auf der Landstraße waren, brach Ole Aae das Schweigen.
„Wie lange wirst du bei deinem Vater auf Grankveen sein?“
„So lange wie er.“
„Und wie lange ist das?“
„War es nicht bis zum Herbstthing?“
„Und wo gehst du dann hin?“
„Nach Rørstad, denke ich.“
„Gehst du morgen in die Kirche?“ wechselte Ole plötzlich das Thema.
„Nein, ich gehe nicht.“
Willst du morgen abend zu unserem Ball kommen?“ fragte Ole.
„Ja, gern!“ antwortete Rolf. „Gute Nacht, Aae!“
Beide gingen nun ihrer Wege, Ole Aae auf seinen großen Bauernhof und Rolf in seine bescheidene Hütte. Auf dem Nachhauseweg grübelte er, was Ole Aae bewogen hatte, ihn plötzlich so milde zu behandeln, nachdem er kurz zuvor noch zornig gewesen war – und ihn sogar zum Ball einzuladen.

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